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Berge - Orte der Wandlung (2003)

in: Saemann Mai 2003 (Gemeindeseite Reformierte Kirchgemeinde Vechigen)

"Viele Wege führen zu Gott - einer davon führt über die Berge." (Pindar)

Orte der Gottesbegegnung
Seit uralten Zeiten galten Berge als bevorzugte Orte der Gottesbegegnung: Mose erhielt die zehn Gebote auf dem Gipfel des Berges Sinai, Elias Opfer wurde auf dem Berg Karmel durch Feuer vom Himmel verzehrt. Jesus führte seine vertrautesten Jünger auf den Berg Tabor und liess sie dort seine Lichtverwandlung miterleben. Er wurde auf dem Hügel Golgatha hingerichtet und erschien als Auferstandener seinen Jüngerinnen und Jüngern zum letzten Mal auf einem Berg, bevor er ihren Blicken entgültig entschwand.

Heilige Berge
Die biblischen "Berggeschichten" sind vergleichbar mit unzähligen Geschichten und Mythen, die in anderen Religionen aus gewöhnlichen Bergen "Heilige Berge" werden liessen. In der Auseinandersetzung mit der Urkraft der Bergwelt lässt sich Re-ligio (= Rückbindung an das göttliche Geheimnis) immer wieder von Neuem erfahren. Natürlich führt Bergsteigen nicht von selbst zur Gottesbegegnung. Echte Begegnung lässt sich nicht erzwingen, sie ist und bleibt Geschenk. Man kann sich jedoch darauf vorbereiten. Das gilt für Gottesbegegnungen ebenso wie für Begegnungen unter Menschen oder für die Begegnung mit sich selber. Bergsteigen ist eine Form der Lebensgestaltung, die solch echte Begegnungen vorbereiten kann.

Begegnung mit sich selber
Wer sich auf den Berg einlässt, wird vom Berg geformt. Bereits im Anmarsch zur Hütte beginnt die Auseinandersetzung mit sich selbst, denn was ich zuhause in den Rucksack eingepackt habe, muss ich auch selber tragen. So lerne ich Wichtiges von weniger Wichtigem unterscheiden. Am Berg verschwinden Illusionen sehr schnell und machen einer realistischen Sichtweise meiner wirklichen Fähigkeiten und Grenzen Platz. Anderseits erkenne ich oftmals im Rückblick, dass ich überraschend Grenzen überschreiten und Schwierigkeiten meistern konnte, wie ich es mir nie zuvor zugetraut hatte.

Begegnung mit andern
Ich bin mit andern auf demselben Weg. Wegerfahrungen formen uns zur Schicksalsgemeinschaft, in der jeder auf den andern angewiesen ist. Der Schwächste gibt das Tempo an und der Stärkste setzt sich für alle ein. Mögen wir uns in Extremsituationen auf Grund gewisser ungeschönter Charakterzüge hie und da auch auf die Nerven gehen, der Andere bleibt mein Bergkamerad. Und so wird das Seil, das vor mir im Nebel verschwindet, zum Lebensfaden, der mich halten wird, falls ich stürzen sollte, und der Ruf "kannst nachkommen" zur Ermutigung, die mein Vertrauen stärkt, dass auch im Weglosen ein Weg weiterführt.

Begegnung mit Gott
Über die Begegnung mit dem göttlichen Geheimnis lässt sich nicht leichtfertig schreiben. Die Erfahrungen sind zu intim. Sie können von inneren Berührungen handeln mitten in der Wucht eines eisigen Schneesturms oder in der vergehenden Glut des Sonnenuntergangs, von Bewahrungen in lebensbedrohlichen Situationen und von unmittelbaren "Führungen" nach langer erfolgloser Wegsuche. Sie geben Anlass, umzudenken, das Leben zu verändern, neue Wege zu wagen.

Spiritualität im Wandel
Die Bergtour wird zum Symbol einer sich wandelnden Spiritualität: Schritt für Schritt fällt Unwichtiges ab und das Wesentliche beginnt Gestalt anzunehmen. Auf dem Weg wandeln sich die ursprünglichen Fragestellungen, werden vom Leben neu geformt.
Da war die Frage um die richtige Reihenfolge der Alpengipfel. Sie liess sich auf gedruckten Panoramen auswendig lernen. Beim Aufstieg verschieben sich jedoch die Perspektiven: Was gestern noch rechts war, rückt zunehmend gegen links. Die Frage nach richtig oder falsch weicht der Erkenntnis, dass der jeweilige Standort über eine Sichtweise entscheidet.

Wo sind die Grenzen?
Da war die Frage nach den Grenzen des theologisch und spirituell Legitimen. Beim Klettern auf dem Grantigrat lösen sich gewohnte Kategorien in Luft auf. Hier halten nicht Zäune links und rechts eines abgegrenzten Bereichs Herdentiere auf dem "rechten Weg". Die Berschaffenheit des Felsens erfordert vom mündig werdenden Bergsteiger Schritt um Schritt Achtsamkeit, um in der gesunden Mitte zu bleiben und den guten Weg aufwärts zu finden. Und - je höher man steigt, desto mehr weitet sich der Horizont.

Wem darf man vertrauen?
Da war die Frage: Wem darf man sich bedenkenlos anvertrauen und wo beginnt die Verführung? Auch diese Frage relativiert sich. Natürlich ist jeder Bergsteiger froh für Karte, Kompass und Kletterführer. Ebenfalls für die bereits gesetzten Felshaken, die zeigen, wo die Route emporführt. Und trotzdem habe ich selber jeden Schritt in eigener Verantwortung zu prüfen. Eine Routenführung, die früher richtig war, kann heute gefährlich sein. Wer sich blind einem alten Felshaken anvertraut, kann mit ihm heute in die Tiefe stürzen.

Der richtige Weg?
Da war die Frage nach dem richtigen Weg und demgemäss nach den falschen. Am Berg führen meist verschiedene Routen zum Ziel. Wesentlich ist, dass ich diejenige Route, die ich meinen Neigungen und meiner Lebensführung gemäss gewählt habe, mit aller Gründlichkeit und Konsequenz weitergehe und nicht neidisch oder gar verurteilend auf andere Bergsteiger in anderen Routen schiele. Nur auf meinem eigenen Weg werde ich aufmerksam auf die Stimme des grossen "Ja" in meinem Innern, das mich vorbehaltlos annimmt mitsamt meinen Begrenzungen und meinem Versagen und mir dadurch immer wieder neu Mut macht, meinen Reifungsweg weiterzugehen.
"Der Weg, der zur Wahrheit und zum Leben führt, das bin ich", spricht uns unser Meister und "Bergführer" Christus immer wieder neu zu. Dank ihm bleibt meine Lebenstour spannend und zukunftsvoll.

Markus Nägeli

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