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Noli me tangere (4.4.10)

Homilie zu Johannes 20,17 (Auferstehungsfeier Kirche Scherzligen 4. April 2010)

Maria aber stand draussen vor dem Grab und weinte. Als sie weinte, beugte sie sich in das Grab hinein und sah zwei Engel in weissen Kleidern dasitzen, einer am Kopf und einer an den Füssen, wo der Körper Jesu gelegen hatte. Sie sagten zu ihr: „Frau, warum weinst du?“ Sie sagte zu ihnen: „Sie haben meinen Rabbi fortgenommen, und ich weiss nicht, wo sie ihn hingebracht haben.“ Als sie dies gesagt hatte, drehte sie sich um und sah Jesus dastehen, aber sie wusste nicht, dass es Jesus war. Jesus sagte zu ihr: „Frau, warum weinst du? Wen suchst du?“ Sie dachte, dass er der Gärtner wäre und sagte zu ihm: „Herr, wenn du ihn weggetragen hast, sage mir, wo du ihn hingebracht hast, und ich werde ihn holen.“ Jesus sagte zu ihr: „Maria!“ Sie wandte sich um und sagte zu ihm auf Hebräisch: „Rabbuni!“ – das heisst Lehrer. Jesus sagte zu ihr: „Halte mich nicht fest, denn ich bin noch nicht zu Gott, meinem Ursprung, aufgestiegen. Geh aber zu meinen Geschwistern und sage ihnen: Ich steige auf zu meinem Gott und eurem Gott, zu Gott, der mich und euch erwählt hat.“ Maria aus Magdala kam und verkündete den Jüngerinnen und Jüngern: „Ich habe Jesus den Lebendigen gesehen.“ Und dies hat er ihr gesagt. (Joh. 20, 11-18  nach der „Bibel in gerechter Sprache“)


Liebe Mitfeiernde,
Im Zentrum dieses Auferstehungsberichts steht das Wort, das vielen von uns in lateinischer Sprache bekannt ist: „Noli me tangere“.
Maria von Magdala hört auf einmal ihren Namen: „Maria!“, Nach blitzartigem Erkennen ruft sie: „Rabbuni“ („mein Lehrer“) – und erhält zur Antwort: „noli me tangere“ (“Rühr mich nicht an”)
Dies ist der Moment des Erwachens - der Moment der inneren Berührung, des Wiedererkennens - der Moment, in dem jedoch die äussere Berührung verwehrt wird, so sehr sich Maria von Magdala danach sehnt. „Noli me tangere!“
Dies ist der Moment, in dem uns glückvoll und zugleich schmerzhaft bewusst wird, dass die Auferstehungswirklichkeit so neu, so überraschend, so anders ist, als dass unser altes Sein sie wirklich fassen könnte. „Noli me tangere!“
Wir brauchen Zeit, um zu begreifen, Zeit, um nach und nach zu verstehen, bis dann wirkliches Erkennen möglich wird.
Unsere Augen, unsere Ohren, unsere Herzen sind so sehr an das Alte gewöhnt, dass es wahrlich ein Erdbeben braucht, um uns für das Neue zu öffnen. Und die Berichte vom Ostermorgen zeigen uns, dass sogar ein Erdbeben dazu nicht ausreicht. Wir brauchen Zeit, wir müssen einen Weg zurücklegen.

Es ist eindrücklich, hier im Johannesevangelium zu sehen, wie lange Maria aus Magdala gebraucht hat, um ihr festgefügtes Denk- und Verhaltensmuster aufbrechen zu lassen. Wie viele Signale der Auferstehungswirklichkeit sie zuerst übersehen und überhört hatte, weil sie sie vorerst auf althergebrachte Weise interpretierte:
Da war doch schon der mächtige Stein, der von der Grabkammer weggerollt war. - Ihre Reaktion: Sie rennt zurück in die Stadt zu den Jüngern: „Sie haben den Rabbi aus dem Grab weggenommen und wir wissen nicht, wo sie ihn hingebracht haben.“
Dann später, wieder am Grab, die Erscheinung der beiden Engel, „in weissen Kleidern dasitzend, einer am Kopf und einer an den Füssen, wo der Körper Jesu gelegen hatte“. Und sie sprechen Maria sogar an, mit den Worten: „Frau, warum weinst du?“ – Ihre Reaktion, unverändert: „Sie haben meinen Rabbi fortgenommen, und ich weiss nicht, wo sie ihn hingebracht haben.“
Und sogar die Erscheinung des Auferstandenen reicht zuerst nicht aus, um eine Veränderung in ihr herbeizuführen, auch nicht dessen Worte: „Frau, warum weinst du? Wen suchst du?“ – Obwohl sie ihn erblickt, sind ihre Augen innerlich noch verschlossen für die neue Wirklichkeit. Sie ist noch eingeschlossen in ihren Schmerz, noch eingemauert in ihre Trauer. Ihre Logik ist noch die alte Logik, die meint, dies könne nur der Gärtner sein und deshalb wie mechanisch wiederholt: „Herr, wenn du ihn weggetragen hast, sage mir, wo du ihn hingebracht hast, und ich werde ihn holen.“

So sind auch wir oft in unseren gewohnten Vorstellungen gefangen, sind festgefahren in alte Denkmuster, eingemauert in ein Weltbild, das behauptet, das einzig tod-sichere sei der Tod. Dabei sind die Zeichen der Auferstehungswirklichkeit längst mitten unter uns. Dabei lebt die Auferstehungskraft längst in uns. Dabei ist die Welt gerade auch in dieser Frühlingszeit übervoll von quellendem, aufspringendem, spriessendem, hüpfendem, jubelndem Auferstehungsleben … wenn unsere Ohren und Augen sich öffnen, und vor allem, wenn unser Herz sich davon berühren lässt.
Doch eine solche Berührung lässt sich nicht erzwingen. Sie ist und bleibt Geschenk. So hat es auch Maria von Magdala erfahren, als plötzlich wie ein Vorhang vor ihren Augen und Ohren weggezogen wurde und sie die Stimme des Auferstandenen im Klang ihres Namens hörte: „Maria“ .

Auch wir dürfen heute Morgen ebenfalls die Stimme des Auferstandenen im Klang unseres Namens hören. Unser eigener Name erklingt tief in unserem Herzen …  und der Klang unseres Namen verbindet sich in uns mit der uralten Verheissung: „Fürchte dich nicht, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.“ (Jes. 43,1b)

„Maria“ – Innere Berührung, blitzartiges Erkennen und Aufspringen aus der Verkrümmung der Trauer ist für Maria eins: „Rabbuni“ ruft sie und wirft sich ihm entgegen. Doch der Auferstandene wehrt ab: „Noli me tangere!“ „Rühr mich nicht an!“ Das Neue der Auferstehungswirklichkeit will auf neue Weise erkannt und begriffen werden:
Maria, Du darfst dich nicht auf alte Weise dieser Wirklichkeit bemächtigen wollen. Du darfst mich nicht ergreifen, du sollst begreifen. Du kannst mich nicht in Besitz nehmen, doch du kannst nach und nach verstehen, dass ich selber, der Auferstandene von dir Besitz nehmen möchte.  Meine Auferstehungskraft will dich durchströmen, kräftigen, verwandeln und zu den anderen senden. So können auch sie von der Auferstehung ergriffen werden.

„Rühr mich nicht an!“, oder vielleicht besser übersetzt „Halte mich nicht fest!“ sagt der Auferstandene heute morgen auch zu jedem von uns:
Halte mich nicht fest in deinen begrenzten Vorstellungen. Ich bin auferstanden. Für mich ist nichts unmöglich.
Halte mich nicht fest in deinen begrenzten Erwartungen an dich selber. Ich auferstehe auch in dir. Ich stehe in dir auf, damit du aufatmen, dich wandeln und leben kannst.
Halte mich nicht fest in deiner begrenzten Hoffnung für die Welt. Ich auferstehe in die ganze Welt hinein. Überall dort, wo meine Auferstehungskraft wirksam wird, entsteht Leben, das jeden Tod überwindet.

Liebe Mitfeiernde. Ich lade euch ein, beim Hinausgehen unter der Empore einen Blick nach links zu werfen. Genau diese eben beschriebene Szene ist auf dem alten Grabtuch von Scherzligen dargestellt. Wir sehen, wie der Auferstandene das Schriftband „Noli me tangere“ trägt – „Halte mich nicht fest“. Diese Szene will uns hinaus in unseren Alltag begleiten.
Lassen wir uns vom Auferstandenen aus unseren gewohnten Bahnen werfen.
Lassen wir es zu, dass die Auferstehungskraft unsere Augen, unsere Ohren öffnet, damit wir die Zeichen des Neuen in uns und rings um uns wahrnehmen können.
Lassen wir es zu, dass unser Herz, dass unsere Hände und Füsse verwandelt werden, damit wir uns wie Maria als Botinnen und Boten der Hoffnung hinaus in diese Welt des Todes senden lassen, und dass wir bekennen können: „Christus ist auferstanden von den Toten und hat den Tod durch den Tod besiegt, und denen im Grabe das Leben gebracht.“ Amen.

Markus Nägeli

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