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"Seid barmherzig!" (8.7.06)

Predigt zu Lukas 6, 36-42 (8. Juli 2006 – Johanneskirche Thun - Markus Nägeli, Pfarrer)


„Seid barmherzig, so wie euer Vater barmherzig ist. / Verurteilt nicht andere, dann wird Gott euch auch nicht verurteilen. Spielt nicht den Richter, dann wird Gott euch ein gnädiger Richter sein. Lasst Schulden nach, dann wird Gott euch vergeben. / Schenkt weg, was ihr habt, dann wird Gott euch beschenken. Wenn Gott zurückschenkt, ist das ohne Grenze, ohne Mass und überreich. So wie ihr bemesst, was ihr gebt, wird Gott bemessen, was er euch zurückgibt.“
Dann gab Jesus den Jüngern ein paar Gleichnisse. „Ein Blinder kann unmöglich einen Blinden führen. Da fallen nur beide in den Graben. Fragt euch: Ist der, der urteilt, wirklich besser? / Der Schüler ist nicht besser als sein Lehrer, und wenn er ausgelernt hat, ist er auch nur wie er. / Was starrst du auf den Splitter im Auge deines Bruders, und den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht? / Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: ‚Komm, Bruder, ich will dir den Splitter aus dem Auge ziehen’, wo du doch den Balken in deinem eigenen Auge nicht siehst? Scheinheilig bist du, zieh erst den Balken aus deinem eigenen Auge, dann sieh zu, wie du den Splitter aus dem Auge deines Bruders ziehst.“ (Übersetzung: Berger / Nord)


Liebe Gemeinde,
Es gibt eine Erfahrung, die mich einerseits beglückt und anderseits bedrückt. Zuerst die beglückende Seite: Da lerne ich bei einer Begegnung einen Menschen näher kennen, den ich bisher nur oberflächlich gekannt habe, und von dem ich durchaus ein ganz bestimmtes Bild habe. Ich meine zu wissen, wie dieser Mensch ist, habe ich doch einiges über ihn gehört, und das, was ich bisher selber von weitem wahrgenommen habe, passt gut zu dem Bild, das mir geläufig ist. In diesem Bild gibt es auch einen dunklen Fleck aus seiner Vergangenheit, der mir sehr fragwürdig erscheint und der mich zu dieser Person bisher auf eine gewisse Distanz gehalten hat. Doch dann kommt es zu dieser persönlichen Begegnung, die mir Einblick gewährt in das Leben dieses Menschen, in Hintergründiges, in tiefere Zusammenhänge – und je länger diese Begegnung dauert, desto mehr verändert und weitet sich mein bisheriges Bild dieses Menschen. Aber auch der erwähnte fragwürdige dunkle Fleck hellt sich für mich auf, weil ich so manch Hintergründiges erfahre, was ein völlig neues Licht auf das damals Geschehene wirft. – Eine beglückende Erfahrung, wenn sich durch persönliche vertiefte Begegnung das Bild eines Menschen grundlegend verändern kann!
Aber wie gesagt, die gleiche Erfahrung hat für mich auch eine bedrückende Seite: Ich realisiere zugleich, wie lange ich vorher ein völlig verzerrtes Bild dieses Menschen in mir getragen habe. Und nicht nur das, ich habe dieses schiefe Bild in der Vergangenheit auch da und dort mit hingeworfenen Bemerkungen an andere weiter vermittelt und dadurch mitgeholfen, es zu festigen. Gerade in Bezug auf diesen dunklen Fleck, der sich nach Kenntnis der wahren Hintergründe als völlige Fehleinschätzung erwiesen hat, musste das diesem Menschen immer wieder massive Schwierigkeiten bereitet haben, die sich kaum mehr aus der Welt schaffen lassen.

Liebe Gemeinde, „Richtet nicht!“, fordert uns Jesus auf. Denn unsere Tendenz, alles, was uns begegnet, sofort zu beurteilen, ist demnach gar nicht harmlos. Deshalb verwendet Jesus diesbezüglich auch starke Wort und Vergleiche: als Blinde Blindenführer, die zusammen in den Graben fallen werden, bezeichnet uns Jesus, wenn wir andere beurteilen und verurteilen wollen. Ein Bild, das gut aufzeigt, wie fragwürdig, ja wie gefährlich diese Tendenz letztlich ist:
Weshalb ist unser Beurteilen so fragwürdig? Es gibt eine ganze Reihe von Gründen, die unsere vorschnellen Beurteilungen in Frage stellen:

1) Sind wir denn so sicher, ob der wirkliche Sachverhalt wirklich so ist, wir meinen?
Da beklagt sich einer über einen Bekannten, der ihn neuerdings in der Öffentlichkeit schneidet: „Er hat mich nicht einmal gegrüsst, als ich ihm auf dem Trottoir entgegenkam, dafür hat er gleich die Strassenseite gewechselt.“ Der Fall scheint sonnenklar! – Bis deutlich wird, dass folgender Sachverhalt vorliegt: Der kurzsichtige Bekannte hatte Tags zuvor seine Brille zerbrochen und wechselte zufällig in diesem Moment auf die andere Strassenseite, weil er eben auf das Optikergeschäft gegenüber zusteuern wollte.

2) Könnte vielleicht Hintergründiges vorhanden sein, das wir noch nicht wissen?
Eindrücklich bleibt mir die Geschichte einer Mittelschulklasse, die einen ihrer älteren Lehrer als langweilige müde Gestalt beurteilten und ihn deshalb mit ihrem Verhalten so lange fertig machten, bis sie zufällig erfuhren, wie aufopfernd er neben seiner Schultätigkeit seine pflegebedürftige Frau zuhause bis zur eigenen Erschöpfung fast rund um die Uhr umsorgte.
„Wir sollten einen Menschen nicht auf das, was er tut oder nicht tut, sondern auf das, was er leidet, ansehen“, habe ich einmal irgendwo gelesen. Ich möchte mir das immer wieder in Erinnerung rufen.


3) Könnte es gar sein, dass wir aus wenigen Indizien völlig falsche Schlüsse ziehen?
Kennen Sie dieses schöne Beispiel: Da sagt einer zum andern: „Du weisst doch, dass Heizen für die Umwelt viel gefährlicher ist als das Auto fahren! Es gibt einen schlagenden Beweis dafür: Immer, wenn wir mit dem Heizen beginnen, fallen die Blätter!“
Wir lachen ob solch verkehrter Schlussfolgerung – und machen doch immer wieder ähnliches. Kein Wunder, dass Jesus hier verallgemeinernd feststellt: „Fragt euch: Ist der, der urteilt, wirklich besser? Der Schüler ist nicht besser als sein Lehrer, und wenn er ausgelernt hat, ist er auch nur wie er.“

Alles beurteilen und bewerten wollen ist und bleibt fragwürdig. Aber unsere Tendenz zu „richten“ ist nicht nur fragwürdig, sie ist auch gefährlich, denn sie kann massive Folgen für andere aber auch für uns selber haben!

1) Wir können damit Menschen kaputtmachen
Es gibt Gerüchte, die so schwerwiegend sind, dass sie nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit weitererzählt werden. Und doch werden sie weiter- und immer weitererzählt. Und so kann es vorkommen, dass alle etwas zu wissen meinen, und nur der Betroffene selber weiss nichts davon. Er spürt nur, wie sich da und dort plötzlich Menschen von ihm abwenden. Übt er einen Beruf aus, der stark von Vertrauensbeziehungen lebt, kann dies für ihn nach und nach existenzbedrohend werden. Falls er nach Jahren zufällig vernimmt, was da über ihn erzählt wird, nützt meist auch eine Richtigstellung nichts mehr. Ein kaputter Ruf lässt sich kaum wieder herstellen.

2) Mit unserem Urteilen setzen wir etwas in die Welt, was auf uns zurückschlagen wird.
Wir kennen das Sprichwort: „So wie me i Wald rüeft, tönts zrügg.“ Es gibt so etwas wie ein geistiges Gesetz, dass das, was wir in die Welt setzen, uns wieder in ähnlicher Weise begegnen wird. Jesus hat dies einmal so gesagt: „Was der Mensch sät, wird er ernten“.
Dies gilt schon im allgemein-Menschlichen: Wer seinen Mitmenschen mit Güte begegnet, dem kommt auch mehr Güte entgegen. Wer seine Mitmenschen stets kritisch beurteilt, wird selber auch stärker unter die Lupe genommen – und wenn er einmal selber stolpern sollte, ist ihm Schadenfreude gewiss.
Und in ähnlicher Weise, wie diese Zusammenhänge im Allgemein-Menschlichen erfahrbar sind, können wir sie auch in Bezug auf unser Schicksal und auf die göttliche Schicksalslenkung erfahren: Deshalb macht Jesus hier deutlich: „Verurteilt nicht andere, dann wird Gott euch auch nicht verurteilen. Spielt nicht den Richter, dann wird Gott euch ein gnädiger Richter sein. Lasst Schulden nach, dann wird Gott euch vergeben. Schenkt weg, was ihr habt, dann wird Gott euch beschenken. Wenn Gott zurückschenkt, ist das ohne Grenze, ohne Mass und überreich. So wie ihr bemesst, was ihr gebt, wird Gott bemessen, was er euch zurückgibt.“

Wenn es schon so viele sachliche Gründe gibt, die unsere Tendenz, ständig zu beurteilen und zu verurteilen in Frage stellen, weshalb ertappen wir uns und andere dann trotzdem immer wieder dabei?
Unsere Neigung, bei Mitmenschen Schattenseiten auszumachen und sie zu beurteilen, scheint tief in uns zu stecken. Irgendwie scheint es uns gut zu tun, wenn wir bei anderen Negatives feststellen und weiterverbreiten können.
Jemand hat einmal gesagt: Wenn wir realisieren, dass andere ebensoviel oder vielleicht sogar noch etwas mehr „Dräck am Stäcke“ haben, als wir, können wir uns selbst wieder einigermassen aushalten.
Wenn diese Beobachtung zutrifft, hat das, was wir an anderen kritisch feststellen, primär mit uns selber zu tun. Könnte es sein, dass wir uns deshalb so gern zum Richter über andere aufspielen, weil wir tief in uns Angst haben, selber bei einem gründlichen Selbstgericht über uns durchzufallen? oder haben wir unbewusst sogar Angst, vor einem grösseren Gericht, einem göttlichen Schicksalsgericht, nicht bestehen zu können? Ist der tiefste Grund, unseres Richtens der Eindruck, selber nicht ganz zu genügen?

Wohl deshalb beginnt Jesus den ganzen Abschnitt seiner Ermahnung mit dem Satz: „Seid barmherzig, so wie euer Vater barmherzig ist.“
„Barmherzigkeit“ ist für uns Heutigen nicht ein einfaches Wort, es hat bei uns oft noch den Klang einer Wohltätigkeitsmentalität: Es wirkt deshalb wie leicht von oben herab und nicht ganz ernst zu nehmen. Barmherzigkeit erinnert uns an den Opferstock mit dem „Negerli“ in der Sonntagschule, das mit dem Kopf dankend nickte, wenn man ihm einen Zwanziger gab.
Im Aramäischen, der Muttersprache Jesu, bedeutet die Wortwurzel von Barmherzigkeit „rachm“ (=Mutterschoss). Mit dem Bild des Mutterschosses verströmte dieses Wort ursprünglich eine völlig andere Qualität: Es bezeichnet die innige Verbindung von Mutter und Kind während der Schwangerschaft: Ein Gefühl von Wärme, von Raum, ein schützender, nährender, pflegender Raum, etwas was in einer Eltern-Kind-Beziehung auch nach der Geburt in anderer Form weiter besteht und an das man wieder andocken kann, wenn man den Eindruck hat, nicht zu genügen. Deshalb haben wir im Psalm 103 vorhin gebetet: „wie ein Vater sich über seine Kinder erbarmt, so erbarmt sich Gott“ über uns. Und Jesus fordert uns auf: „Seid barmherzig, so wie euer Vater barmherzig ist.“ Stören wir uns nicht daran, dass Jesus hier das Wort „Vater“ verwendet. Die Wortwurzel für „Vater“ ist in der Muttersprache Jesu übergeschlechtlich. Jesus hätte demnach ohne weiteres auch „Mutter“ sagen können. Aber auch so schwingen in seinen Worten stets mütterliche Bilder mit, wenn er vom Vater spricht.

„Seid barmherzig, so wie euer Vater barmherzig ist.“ Gott ist barmherzig. Gott ist „rachm“, ist Mutterschoss, schützender, nährender, pflegender Raum, in den wir uns immer wieder vertrauensvoll hineinbetten können, wenn wir den Eindruck haben, nicht zu genügen. Um uns dies zu ermöglichen, ist Jesus in die Welt gekommen und hat in seinem Leben und Lieben, in seinem Sterben und Auferstehen die Kraft dieser göttlichen Barmherzigkeit in die Welt verströmt. In seinem Geist, der in uns lebt, ist diese Kraft vorhanden und für uns erfahrbar. Und die Kraft dieser göttlichen Barmherzigkeit will nicht nur uns selber immer wieder neu umhüllen, sie will uns auch durchströmen und zu unseren Mitmenschen weiter fliessen. Deshalb die Aufforderung: „Seid barmherzig, so wie euer Vater barmherzig ist.“

Welche Konsequenzen ziehen wir nun aus dieser Einsicht?
Verzichten wir auf jegliche Kritik? das wäre ein Fehlschluss. „krinein“ heisst auf griechisch: „unterscheiden“. Gesunde Kritik, hilfreiches Unterscheiden ist wichtig. Auch Jesus hat sich immer wieder kritisch zu Meinungen und Verhaltensweisen geäussert. Und auch hier in unserem Bibelabschnitt verbietet er nicht, den Splitter aus dem Auge des Bruders zu ziehen. Nur zeigt er uns die Dimensionen dieses Unternehmens auf und verweist uns auf die richtige Reihenfolge des Vorgehens:
Zuerst ist Selbsterkenntnis angesagt! Der Splitter der uns im Auge des andern auffällt, kann uns auf den Balken im eigenen Auge aufmerksam machen. Beide sind von ähnlichem Holz. Deshalb geht es darum, an dem, was uns am andern stört, zuerst sich selber zu erkennen. „Was nicht in dir selber ist, regt dich nicht auf“, sagt ein Weisheitswort.
Und Jesus selber fährt weiter: „Zieh erst den Balken aus deinem eigenen Auge, dann sieh zu, wie du den Splitter aus dem Auge deines Bruders ziehst.“ Zuallererst sind Schritte in der Selbsterkenntnis gefragt. Dies verbietet kein Urteilen, es setzt jedoch die Massstäbe neu. Primär geht es darum, uns selber zu erkennen, und uns mit unseren eigenen Verletzungen und Schwierigkeiten immer wieder neu in den heilenden Raum der göttlichen Barmherzigkeit zu halten – um dann erst, aus gründlicher Selbsterkenntnis heraus, barmherziger mit den Schwächen der anderen umgehen zu können.

Wer sich selber immer besser erkennt und sich mit Hilfe der göttlichen Barmherzigkeit auch immer besser selber aushalten kann, wird auch barmherziger mit andern umgehen lernen – und wird, da, wo es vielleicht einmal angebracht sein wird, einem Mitmenschen beim Entfernen seines Splitters im Auge behilflich sein können. Er wird dann aber, wie ein guter Augenchirurg, mit grosser Feinheit, das bedeutet für uns, mit der nötigen Barmherzigkeit, vorgehen können.
Bis wir soweit sind, geht es jedoch darum, unserer vorschnellen Tendenz zum Verurteilen immer wieder neu einen Riegel zu schieben. Eine Hilfe dazu ist die berühmte Geschichte, die uns aus der Antike überliefert wird:

Zum weisen Sokrates kam einer gelaufen und sagte: "Höre Sokrates, das muß ich Dir erzählen!" -
"Halte ein!" - unterbrach ihn der Weise, "hast Du das, was Du mir sagen willst, durch die drei Siebe gesiebt ?"
- "Drei Siebe?", frage der andere voller Verwunderung.
"Ja guter Freund! Laß sehen, ob das, was Du mir sagen willst, durch die drei Siebe hindurchgeht:
Das erste ist die Wahrheit. Hast Du alles, was Du mir erzählen willst, geprüft, ob es wahr ist ?
" Nein, ich hörte es erzählen und..."
" So, so! Aber sicher hast Du es im zweiten Sieb geprüft. Es ist das Sieb der Güte. Ist das, was Du mir erzählen willst gut?"
Zögernd sagte der andere: "Nein, im Gegenteil..."
"Hm...", unterbracht ihn der Weise, "so laß uns auch das dritte Sieb noch anwenden. Ist es notwendig, daß Du mir das erzählst?"-
"Notwendig nun gerade nicht..." " Also," sagte lächelnd der Weise, "wenn es weder wahr noch gut noch notwendig ist, so laß es begraben sein und belaste Dich und mich nicht damit. "

„Seid barmherzig, so wie euer Vater barmherzig ist!“ sagt Jesus.
Es gibt diese Möglichkeit, anders, barmherziger mit unseren Mitmenschen und mit uns selber umzugehen. Nutzen wir sie! Amen.

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