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Spiritualität - Herausforderung für die Kirche (2005)

in: Broschüre zum Kirchensonntag 2006

1. Reformierte Kirche im spirituellen Umbruch

Boomende Spiritualität
Spiritualität ist „in“. Ging man in reformierten Kirchgemeinden noch vor wenigen Jahrzehnten vor allem „z Predigt“, werden heute spirituelle Angebote unterschiedlichster Art angeboten: Da wird zu  „Meditation“ und „Kontemplation“ eingeladen, zum „Pilgern“, und zu „sakralem Tanz“, da finden „Taizé-Gebete“ statt, „liturgische Kirchennächte“, Gottesdienste mit Segnung, Salbung und Handauflegung. Kerzen sind mittlerweile auch bei uns Reformierten allgegenwärtig und Jahreszeitenrituale bereichern den Festkalender. Unsere Kirchenlandschaft erscheint in einem spirituellen Umbruch begriffen.

Was ist Spiritualität?
„Spiritus Sanctus“ ist die lateinische Übersetzung von „Heiliger Geist“. Durch Spiritualität soll die heilende Geist-Kraft Gottes zur Wirkung kommen. Mittlerweile ist Spiritualität zum Modebegriff geworden, der sehr unterschiedlich gefüllt wird. Als Grundanliegen bleibt jedoch das Bemühen, für das „Heilige“, für die Tiefendimension des Lebens, vermehrt Raum zu schaffen. Das früher dafür verwendete Wort „Frömmigkeit“ riecht jedoch für viele Zeitgenossen allzu sehr nach verstaubter Kirchlichkeit. Der Begriff Spiritualität verweist hingegen stärker auf ein religiöses Bedürfnis, das sich individuell, weltoffen und kreativ zeigt und in einer solchen Haltung nach mystischer Erfahrung sucht.
Mittlerweile nutzen christliche Bewegungen, die sich inhaltlich zwar von einer dergearteten Spiritualität abgrenzen, den erfolgreichen Begriff auch für sich. Sie nennen ihren Frömmigkeitsstil mit einem gewissen Recht ebenfalls ihre Spiritualität. Damit treten letztlich eine Vielzahl unterschiedlicher Spiritualitätsformen auf dem heutigen Markt der Möglichkeiten auf. Deshalb ist immer wieder neu zu klären, mit welchen Bedeutungsnuancen das Wort in einem bestimmten Zusammenhang verwendet wird.

Zur Geschichte des heutigen spirituellen Aufbruchs
Lange wurde jeder, der sich noch für Religion stark machte, als rückständig angesehen. Seit einigen Jahrzehnten nimmt eine breite Öffentlichkeit erstaunt die weltweite Wiederkehr des Religiösen wahr und zwar in zwei unterschiedlichen Hauptströmungen: Der religiöse Fundamentalismus tritt in seiner politisch konservativen, patriarchal und gesetzlich geprägten Art eindeutig als ein Gegner der Moderne auf. Demgegenüber zeigt die moderne spirituelle Bewegung ein facettenreicheres Gesicht. Sie wirkt betont individualistisch, von feministischen und freiheitlichen Elementen durchsetzt. Sie passt damit eher zur Befindlichkeit des modernen Menschen. Dies ist ihre Stärke und Schwäche zugleich, kann sie damit doch auch einem von Unverbindlichkeit und einer gewissen Beliebigkeit geprägten Auswahlchristentum Vorschub leisten.

Vielfältige Einflüsse
Der heutige spirituelle Aufbruch in unserer reformierten Kirche ist von vielfältigen Einflüssen geprägt: Ökumenische Kontakte lassen uns die sinnliche Dimension des Christentums entdecken: Kerzen, Liturgie, Gebärden und Ritual, aber auch die reiche Symbolwelt der Ikonen eröffnen uns „verkopften“ Reformierten ein ganzheitlicheres Verständnis für die christliche Tradition. Wir lernen über die reichen Schätze der abendländisch-christlichen Mystik staunen. Aus der Berührung mit charismatischen Bewegungen erwächst das Bedürfnis nach Gottesdienst voller Inspiration, Begeisterung und Lebensfreude. Aber auch die Begegnung mit spirituellen Wegen anderer Religionen fasziniert: Meditation im Stil des Zen-Buddhismus, Yoga, Tai-Chi, Sufistische Tanzrituale, mystisch-kabbalistisches Judentum, indianische Spiritualität und anderes mehr hinterlässt tiefen Eindruck. Einflüsse aus der feministischen Theologie öffnen uns für die leibliche Dimension des Glaubens, desgleichen Therapien, die das Leibbewusstsein schulen wie Eutonie, Feldenkrais, Atemarbeit, körperzentrierte Psychotherapien und alternative Heilverfahren. All dies führt bei manchen Kirchengliedern zeitweilig zu einer gewissen Heimatlosigkeit. Andere werden dadurch erst recht angespornt zu einer vertieften Suche nach den verschütteten Traditionen spiritueller Wege im Christentum.

Orientierung im Dschungel der Möglichkeiten
Mittlerweile ist der spirituelle Markt vielfältig und unübersichtlich geworden. Manche rufen nach „religiösem Konsumentenschutz“. Ein wachsendes Netz von Informations- und Beratungsstellen versucht diesem Bedürfnis gerecht zu werden. Für die Beurteilung spiritueller Phänomene reicht jedoch oft auch der gesunde Menschenverstand: Bei übertriebenen Heilsversprechen, bei Personenkult und plumper Vermarktung leuchtet zu Recht eine Warnlampe in uns auf. Gesunde Spiritualität bleibt nicht bei der Phase der „Verliebtheit“ in das Spirituelle stehen, sondern reift zu wahrer Liebe. Sie ist weder uniform noch gebärdet sie sich eifersüchtig. Sie schliesst zugleich Relativismus und Fanatismus aus und hilft dem Menschen, in Empathie für seine Mitmenschen da zu sein und in einer neuen Wachheit für soziale und ökologische Anliegen den Alltag zu bewältigen.

Religiöse Gottlosigkeit?
Die wohl stärkste kritische Anfrage an den gegenwärtigen spirituellen Aufbruch kommt jedoch aus dem Innern der Kirche: Findet heutzutage unter dem Deckmantel einer spirituellen Erneuerung in Wahrheit eine Aushöhlung des zentral Christlichen statt? verführt die boomende Spiritualität viele Menschen letztlich zu „religiöser Gottlosigkeit“?


2. Christliche Spiritualität im Schnittpunkt von Naturmystik und Heilsgeschichte

Wo sind die Grenzen?
Vor Jahren erzählte mir ein Kollege von Gesprächen mit sogenannt „esoterisch“ beeinflussten Gemeindegliedern. Er schien sichtlich beeindruckt von diesen Menschen, aber auch zutiefst verunsichert: „Aber wo sind die Grenzen?“ fragte er mich mehrmals mit spürbarer Erregung. Ich spürte, wie sich etwas in mir gegen diese Art der Frage sträubte – und antwortete nach längerem Schweigen: Ich kann nicht mehr in dieser Weise fragen. Wenn ich als Bergsteiger beim Klettern auf einem Grat links und rechts nach den Grenzen suche, lande ich plötzlich in bröckelndem Gestein und es wird gefährlich. Bemühe ich mich dagegen, in der Mitte auf der Gratkante zu bleiben, die Route, die meine Vorgänger angelegt haben, im Auge zu behalten und zugleich jeden Griff und Tritt neu zu prüfen, komme ich sicher vorwärts und kann meine Seilschaft in gesundem Fels zum Gipfel führen.

Auf dem spirituellen Weg
Nicht von ungefähr sprechen spirituelle Traditionen seit alters vom „spirituellen Weg“. Damit ist nicht ein Weg hin zu Gott gemeint, sondern ein Weg der inneren Persönlichkeitsschulung und Reifung, um mit dem ganzen Wesen die Gegenwart des Göttlichen in uns und um uns besser erkennen und besser aus dieser Gegenwart heraus leben zu können. So fragte einst ein Schüler seinen spirituellen Lehrer: „Können wir etwas dafür tun, um erleuchtet zu werden?“ „So wenig, wie ihr etwas dafür tun könnt, dass am Morgen die Sonne aufgeht.“ „Weshalb müssen wir denn diese spirituellen Übungen machen?“ „Damit ihr nicht schläft, wenn die Sonne aufgeht.“

Schöpfungsspiritualität
Wach werden für das Geheimnis der Schöpfung, darum geht es in vielen spirituellen Angeboten. Zu lange haben wir Menschen die Natur und damit auch uns selber beherrscht und ausgebeutet. Schöpfungsspiritualität schult die Wahrnehmung für die reale Schöpfung um uns und in uns und für das, was den Fluss der Schöpfungskräfte blockieren will. Naturmystik lehrt uns nicht nur, einen konkreten Sonnenaufgang vertiefter mitzuerleben, sondern schärft unser Empfinden für die gegenwärtige Schöpfungswirklichkeit. Die Kraft des heilenden Schöpfergeistes schafft nicht nur jedes Jahr einen neuen Frühling, sondern schenkt uns hier und jetzt in jedem Atemzug einen schöpferischen Neuanfang. Schöpfungsspiritualität leitet uns an, dies nicht nur im Kopf zu bewegen, sondern mit allen Fasern unseres Seins zu erfahren. Deshalb gehört auch Persönlichkeitsarbeit dazu. Wir sollen uns auf unserem spirituellen Weg immer besser kennen lernen, mitsamt unseren Licht- und Schattenseiten. „Wer kommen will in Gottes Grund, muss zuerst kommen in seinen eigenen Grund.“ (Eckhart)

Erlösungsspiritualität
Diese Kraft der Sonne, die jeden Morgen neu die Dunkelheit überwindet, ist nicht nur im zyklischen Tages- und Jahreslauf als Schöpfungskraft erfahrbar, sondern in vertiefter Weise als Erlösungsgeschehen in der Geschichte Gottes mit den Menschen. Die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten und die Rückkehr aus dem babylonischen Exil haben sich dem Gottesvolk als tiefe Erlösungserfahrungen eingeprägt. Durch sie ging ihnen jeweils nach langer Nacht der Verzweiflung wieder die Sonne auf. Wir Christen bekennen diese grundlegende geschichtliche Erlösungserfahrung im Leben, Sterben und Auferstehen von Jesus Christus. Deshalb besingen wir ihn in vielen Liedern als „Sonne der Gerechtigkeit“ und wünschen, dass diese künftig noch in viel grösserem Mass für alle Menschen aufgehen möge.

Naturmystik und Heilsgeschichte – ein Gegensatz?
Viele naturmystisch geprägte Menschen erwarten nichts mehr von der christlichen Kirche. Zum Teil haben sie christuszentrierte Spiritualität als natur- und leibfeindlich und Kirchenleute als dogmatisch engstirnig erlebt und sich deshalb davon abgewendet.
Manche kirchenverbundene Menschen haben in der Tat ein zwiespältiges Verhältnis zu den Schöpfungskräften. Schnell wittern sie hier Abfall vom rechten Glauben und sind auch heute noch bereit zu Dämonisierungen und geistigen Hexenverbrennungen.
Dieser oft unüberbrückbar scheinende Gegensatz spiegelt uns die Schattenseiten von 2000 Jahren überwiegend westlich geprägtem Christentum. Glücklicherweise kennen wir aus den Anfängen der Christenheit auch noch andere, verbindende Impulse:

Sonne und Kreuz
Im Frühmittelalter wurden im fernsten Westen von Europa grosse Kreuze aus Stein errichtet. Die Irischen Hochkreuze tragen einen symbolischen Sonnenkreis um das Kreuz. In Irland blühte während Jahrhunderten eine lebendige christliche Spiritualität. Deren Schüler wurden im Umgang mit den Schöpfungskräften gleichermassen geschult wie in den biblischen Sprachen Hebräisch und Griechisch, die ihnen die Heilsgeschichte besser verstehbar machten. Hier erschien Naturmystik und Erlösungsspiritualität (aber auch Gotteserfahrung und wissenschaftliche Gelehrsamkeit) nicht als Gegensatz. In den wunderbaren Buchmalereien heute noch berühmter Bibelhandschriften wie dem „Book of Kells“ wie auch im täglichen Leben wurden diese eng miteinander verwoben. Aus dieser lebendigen, ganzheitlichen Spiritualität strömte eine dynamische Kraft, die einerseits die Gottesdienste eindrücklich belebte (in gewissen Klöstern wurde z.B. der immerwährende Lobgesang praktiziert). Anderseits wurde das menschliche Engagement gestärkt und grosses Gewicht auf eine glaubwürdige Alltagsethik gelegt. Nicht von ungefähr entwickelte diese Spiritualität eine geistliche Dynamik, die sozusagen den Rahmen ihrer Heimat sprengte. Von der Frohbotschaft getrieben machten sich Kolumban, Gallus und andere auf den langen, gefahrvollen Weg zu uns. Dass unser Land nach den Wirren der Völkerwanderung neu evangelisiert worden ist, haben wir grossteils diesen Iroschottischen Mönchen zu verdanken.

Wenn Schöpfungskräfte zu Erlösungskräften werden
Die besondere Herausforderung des heutigen spirituellen Aufbruchs sehe ich persönlich darin, Schöpfungsspiritualität und Erlösungsspiritualität miteinander zu verbinden. Nicht in ängstlicher Abgrenzung gegenüber „esoterischer“ Gefahr will ich meine Arbeit tun, sondern in einer Konzentration auf die Mitte, sozusagen auf den Schnittpunkt von Sonne und Kreuz. Das, was ich in einer vertieften Erfahrung mit den Schöpfungskräften erlebe, will ich immer wieder neu bewusst mit der Christusmitte verbinden. Wenn ich in dieser Weise Schöpfungskräfte sozusagen innerlich „taufe“, kann ich erfahren, wie sie sich heilvoll wandeln und zu Erlösungskräften werden.

Spiritualität für den Alltag
Nicht die Tatsache, dass Spiritualität heute boomt, soll unser Handeln bestimmen. Auf keinen Fall möchte ich religiöse Gottlosigkeit fördern, sondern im Gegenteil: In derjenigen Spiritualität, der ich mich verpflichtet fühle, geht es gleichermassen um ein radikales Ernstnehmen der Heilig-Geist-Kräfte in der Schöpfung und in der Inkarnation Gottes in Jesus Christus mitten in der Weltgeschichte. Sich darauf zu konzentrieren verändert den Alltag, macht ihn lebensvoller und menschlicher.


Markus Nägeli


Literatur: Samuel Leutwyler / Markus Nägeli (Hrsg.), Spiritualität und Wissenschaft, Zürich 2005

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