blank Texte - Artikel Zurück zur Startseite

Rudolf Steiner - Zu frei, zu fremd, zu früh? (2005)

In: Leben & Glauben Nr. 09/05

Rudolf Steiner war ein spiritueller Pionier und als solcher gleichermassen verehrt und verhasst. Vor achtzig Jahren ist er verstorben. Bis heute tun sich die Kirchen schwer mit dem Begründer der Anthroposophie.

„Spiritualität“ ist momentan im Trend, auch in den christlichen Kirchen. Waren die Menschen früher „fromm“, bezeichnen sich heute viele als „spirituell“. Kaum jemand ist sich jedoch bewusst, dass bereits vor hundert Jahren Rudolf Steiner das Wort „spirituell“ im deutschen Sprachraum einzubürgern begann. Damit verbunden suchte er eine spirituelle Weltsicht und eine ethische Lebenspraxis in verschiedensten Lebensbereichen zu etablieren. „Spiritualität“ wurde bald zu einer tragenden Begrifflichkeit unter Anthroposophen – fand jedoch jahrzehntelang kaum den Weg über die Ränder einer immer abgeschlossener werdenden anthroposophischen Subkultur hinaus in die Kirchen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann dort über andere Kanäle die Erfolgsgeschichte der heute boomenden Spiritualität.

Gefeiert und gehasst
Dieser Vorgang ist symptomatisch für das Verhältnis der Kirchen zu Rudolf Steiner. Sein Modell einer Spiritualität, das gleichermassen vom interreligiösen Dialog befruchtet und doch einer spezifisch abendländisch-christlichen Prägung verpflichtet war, wurde in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts von den Kirchen pauschal abgelehnt. Nur auf Umwegen wurden in den Folgejahren Steinersche Impulse – oft inkognito – in Kirche und Gesellschaft fruchtbar. War Steiner den Kirchen zu frei, zu fremd, oder kam er mit vielem ganz einfach zu früh?
Rudolf Steiner ist wohl eine der umstrittensten Gestalten innerhalb der mitteleuropäischen Geistesgeschichte des letzten Jahrhunderts. Steiner liess niemanden kühl. Wie kaum ein anderer wurde er in den stürmischen Jahren kurz nach dem Ersten Weltkrieg auf ausverkauften Vortragstourneen als Retter des Abendlandes hochgejubelt – und gleichzeitig von Gegnern als Schwindler und Scharlatan verschrien. Als stärkster Ausdruck dieses Hasses wurde sein Lebenswerk, der gewaltige Kuppelbau des ersten Goetheanums bei Dornach, in der Silvesternacht 1922/23 durch Brandstiftung in Schutt und Asche gelegt.

Gefürchtet und gemieden
Rudolf Steiner war ein genialer Querdenker, der zu seinen Lebzeiten ein unheimliches Arbeitspensum bewältigte und nach seinem Tod der Nachwelt einen kaum zu bewältigenden Nachlass vererbte. Zu allem und jedem hat sich Steiner geäussert und zum Teil verblüffend neue Denkansätze gezeigt, die noch heute nicht eingeholt worden sind. Auch in Bezug auf Grundfragen des Christentums hat er aus unkirchlicher Optik seine Sicht der Dinge ausgebreitet. Wer ihm – auch in kritischer Weise – gerecht werden will, merkt bald, dass mit einer oberflächlichen Beschäftigung nichts gewonnen ist. Und doch schreckt mancher vor einer tieferen Beschäftigung mit Steiner zurück, von dessen umfassendem Weltbild eine vereinnahmende Kraft ausgeht, der sich viele nur dadurch entziehen zu können glauben, dass sie ihn meiden oder verteufeln.

Verzerrt und verdammt
Kaum ein Denker des 20. Jahrhunderts ist derart verzerrt und diffamiert worden, wie Rudolf Steiner. Bereits 1919 wurde seine Anthroposophie von der römischen Kurie offiziell verurteilt. Zu Beginn der Zwanzigerjahre begann in der Umgebung von Dornach eine Hetzkampagne, die ihresgleichen sucht. Die Anführer der Volksbewegung hatten das erklärte Ziel, die Behörden dazu zu bewegen, das Goetheanum zu schliessen und Steiner und seine Anthroposophen des Landes zu verweisen. Obwohl die solothurnische Regierung sich diesem Druck der Strasse nicht beugte, war nebst dem rauchenden Trümmerhaufen auf dem Dornacher Hügel der geistige Flurschaden immens: Das Goetheanum wurde im Volk nicht nur als „Buddhistenkloster“ verschrieen sondern gar als „Hurenhaus“ bezeichnet. Steiner wurden „teuflische, verführerische Absichten“ unterschoben und vor seinem „Neu-Heidentum“ als einer „seelengefährlichen Irrlehre“ als grösste Gefahr für die Schweiz gewarnt. Die irrationalen Ängste, die damals geschürt wurden, wirken in gewissen Kreisen bis in die Gegenwart nach.

Abgeschottet und angebetet
Dass sich die Anthroposophen unter solchen Umständen in ihre eigene Lebenswelt zurückgezogen haben, darf ihnen nicht verübelt werden. Die gegenseitige Abschottung von Kirche und Anthroposophie hatte jedoch zur Konsequenz, dass die Gedanken Steiners, die er zu spezifisch christlichen Themen äusserte, kaum je vorurteilslos in der Kirchenlandschaft gehört, geschweige denn verstanden wurden. Zudem lässt die Tatsache, dass Steiner von einem Teil seiner Anhängerschaft noch heute fast blind verehrt wird, kritisch Denkende Abstand nehmen, bevor eine sachliche Auseinandersetzung überhaupt begonnen hat. Dennoch gab und gibt es immer wieder namhafte Theologen, die sich gerade von Steiners Beschäftigung mit dem Christentum beeindruckt zeigen und sich von einem sachlich-kritischen Dialog mit der anthroposophischen Sicht des Christentums Gewinn für Kirche und Theologie versprechen.

Entrümpelt und entstaubt
War die Polemik aus kirchlichen Kreisen gegen Rudolf Steiner oft masslos, war die antiklerikale Polemik mancher Anthroposophen nicht minder heftig. Mittlerweile hat sich die theologische Kritik versachlicht, was wiederum auf der anthroposophischen Seite positiv vermerkt worden ist. In vielen Anthroposophen setzt sich die Erkenntnis durch, dass es eigentlich widersinnig ist, den Weltbürger Steiner im eigenen Ghetto eingeschlossen zu belassen. Vielerorts werden anthroposophische Institutionen selbstkritisch von historischem Ballast entrümpelt. Zudem wird das Steinerbild, an das man sich gewöhnt hatte, entstaubt und berechtigte Kritik an zeitbedingten Aussagen des Meisters zugelassen.

Kopiert und kapiert
Wer aufmerksam die anthroposophische Szene in Zeitschriften und Internet verfolgt, stellt fest, dass sich dort immer mehr die Meinung durchsetzt: Viel zu lange sind in den eigenen Reihen Steinersche Erkenntnisse kopiert worden, bevor der tiefere Sinn davon kapiert worden ist. Wer etwas von der multiperspektivischen Sicht Steiners verstanden hat, kann ohne Scheuklappen den Dialog mit den Kirchen einerseits und neueren spirituellen Bewegungen andererseits wagen.
Sind wir auf der Kirchenseite bereit, mit diesem Aufbruch in der Anthroposophenschaft Schritt zu halten, oder kopieren wir weiterhin ungeprüft alte Ängste und Vorurteile gegenüber der Welt der Anthroposophen, die in vielen Bereichen doch manch Erstaunliches geleistet haben? Wer sich möglichst vorurteilsfrei dem Phänomen Steiner nähert, kann nämlich entdecken, dass viele der Fragen, die sich in der heutigen Auseinandersetzung des christlichen Glaubens mit einer multireligiösen Spiritualität stellen, bei Steiner bereits aufgenommen worden sind. Die Antworten auf diese Fragen mögen auf Seiten der Kirchen in mancherlei Hinsicht anders ausfallen als bei Steiner. Aber seine Gedanken können auch heute Impulse und Anregungen zur Ausgestaltung eines zeitgemässen Christentums vermitteln.



((Kasten))

Der Grenzgänger
Rudolf Steiner wurde 1861 in Österreich-Ungarn geboren. Er wuchs in einem unkirchlichen, freigeistig geprägten Elternhaus auf. Als Telegrafist bei der Eisenbahn wurde sein Vater mehrmals versetzt. Steiner war damit von klein auf ein Grenzgänger – äusserlich und innerlich. Einerseits zog ihn die Welt der neuzeitlichen Technik in ihren Bann, anderseits hatte der Knabe übersinnliche Erfahrungen, die sich ihm im Naturerleben, aber auch in der religiösen Welt der katholischen Dorfkirche, in der er Ministrantendienste leistete, vertieften. Damit war eine Grundfrage seines Lebens gegeben: Wie lassen sich die naturwissenschaftlich-technische und die geistige Welt zusammenbringen, die für Steiner seit frühester Kindheit evident war?

An der technischen Hochschule in Wien absolvierte Steiner vorerst ein naturwissenschaftliches und philosophisches Studium. In Goethe fand er einen Denker, der von einer naturwissenschaftlich genauen Beobachtung der Phänomene Ansätze zu einer weiterführenden geistigen Sichtweise suchte. Steiner erhielt die Gelegenheit, in Weimar als Herausgeber von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften zu wirken. In dieser Zeit bereitete er sich mit eigenen philosophischen Schriften auf ein künftiges Lehramt vor. Seine Schriften fanden jedoch in der wissenschaftlichen Welt nicht die nötige Resonanz, und die Aussicht auf einen Lehrstuhl zerschlug sich.

In einer Phase des grossen inneren Umbruchs, die mit seinem Umzug von Weimar nach Berlin kurz vor der Jahrhundertwende einherging, begann er in theosophischen Kreisen Vorträge über Mystik und Christentum zu halten. 1902 wurde er zum Generalsekretär der neugegründeten deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft Adyar berufen und damit zum führenden Theosophen im ganzen deutschen Sprachraum. Die theosophische Gesellschaft segelte damals stark im Fahrwasser hinduistischer und buddhistischer Vorstellungen und hegte eine gewisse Aversion gegen das Christentum. Als deutscher Generalsekretär setzte sich Steiner jedoch von Anfang an für eine abendländisch-christliche Alternative ein. Einige Jahre lang wurde seine Ausrichtung von Annie Besant, der damaligen Präsidentin der Theological Society, als berechtigt anerkannt. Je mehr sich Steiner jedoch mit den Evangelien beschäftigte, desto stärker wurden seine Differenzen zur Adyar-Theosophie. Und als dort 1911 der Knabe Krishnamurti als reinkarnierter Christus angekündigt wurde, ging Steiner auf offene Distanz. Ende 1912 gründeten seine Leute in Köln die Anthroposophische Gesellschaft und wurden im Gegenzug sofort aus der Theological Society ausgeschlossen.

Nach dieser äusseren Loslösung von der Theosophischen Bewegung bemühte sich Steiner in den Folgejahren verstärkt auch um eine innere Loslösung von der theosophischen Ausdrucksweise und vom vielerorts auch in seinen Kreisen noch vorherrschenden theosophischen "Gehabe".
Mittlerweile war Steiners Schülerschaft rasch angewachsen. 1913 entschloss er sich, den Schwerpunkt seiner Tätigkeit in die Schweiz zu verlegen. In Dornach entstand ein eigenes Zentrum, in welchem im Sinn der antiken Mysterienschulen Religion, Kunst und Wissenschaft miteinander vereint werden sollten. Um seine Anthroposophie noch deutlicher im abendländischen Geistesleben zu verankern, nannte er das neue Zentrum "Goetheanum". Während des 1. Weltkriegs halfen unzählige Freiwillige aus allen kriegsführenden Nationen Europas in Dornach beim friedlichen Aufbauwerk des Goetheanums mit.

Steiner suchte in diesen Jahren intensiv nach Wegen für einen fruchtbaren gesellschaftlichen Neuaufbau nach Kriegsende. Mit einem "Aufruf an das deutsche Volk und an die Kulturwelt" machte er im Februar 1919 Vorschläge für einen dritten Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Sein Aufruf, den damals namhafte Personen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur unterzeichneten (u.a. Hermann Hesse) verhallte jedoch bei den Politikern ungehört. Deshalb begann er noch im Krisenjahr 1919 ganz konkrete Impulse für eine Erneuerung von Einzelbereichen der Gesellschaft zu vermitteln. In Stuttgart nahm die "Waldorfschulbewegung" ihren Anfang, die heute rund um die Welt verbreitet ist. Eine heilpädagogische Bewegung brachte eine Vielzahl von Heimen und Sonderschulen hervor. Theologen fragten Steiner um Ratschläge für eine erneuerte Theologie und Kirchenform und gründeten die „Christengemeinschaft“. Steiner gab Impulse für eine erweiterte Medizin und eine naturgemässe Pharmazie, die heute mit Weleda und Wala zu Weltmarken geworden sind. Seine Anregungen für eine biologisch-dynamische Landwirtschaft wurde zur Keimzelle für die heutige ökologische Bewegung.

All diese Initiativen erregten Aufsehen. Von den einen wurde Steiner als Retter des Abendlandes hochgejubelt, von andern als Schwindler verschrien. Diese Ablehnung gipfelte in der mutwilligen Zerstörung des Goetheanums in der Silvesternacht 1922/23. Tief erschüttert über den Verlust seines Lebenswerks fasste Steiner jedoch noch in der Brandnacht den Entschluss weiterzumachen. Dem Neuaufbau des Goetheanums ging ein innerer Neuaufbau der anthroposophischen Gesellschaft voraus: Sie sollte sich endgültig von allem sektenhaft Erscheinenden distanzieren und eine weltoffene Form finden. Zugleich wollte Steiner in ihrem Schoss eine "Freie Hochschule für Geisteswissenschaft" begründen, in der echte esoterische Schulung möglich werden sollte. Zu Weihnachten 1923 lud Steiner zu einer Neubegründung der "Allgemeinen anthroposophischen Gesellschaft" ein.

Diese Neugründung löste bei Steiner einen enormen Schub an geistiger Potenz aus. Sein Arbeitspensum im letzten Lebensjahr erregt beim historischen Betrachter Schwindelgefühle. Ende September brach er entkräftet zusammen, aber noch auf seinem monatelangen Krankenlager arbeitete er geistig weiter.

Steiner erholte sich nicht mehr. Er verstarb am 30. März 1925. Mit seinem Tod hinterliess er ein grosses Nachfolgeproblem, das sich in jahrzehntelangen Streitigkeiten bis in die Gegenwart hinein fortsetzte. Obwohl die anthroposophische Bewegung dadurch in ihrer Entwicklung behindert und belastet worden ist, ist sie bis heute zu einem unübersehbaren Kulturfaktor geworden.

Markus Nägeli


Markus Nägeli, Pfarrer, Dr. theol. ist Beauftragter für Spiritualität in der Ref. Kirchgemeinde Thun-Strättligen und wirkt als Kursleiter (www.markus-naegeli.ch). Er ist Autor des folgenden Buches: Kirche und Anthroposophen. Konflikt oder Dialog, Bern 2003.

Zurück zur Auswahl

Sie sind der 761607. Besucher dieser Homepage
© 2024 by Markus Nägeli, Thun - Disclaimer - Webdesign by dysign.ch