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"Ich lasse dich nicht fallen!" (1.1.06)

Neujahrspredigt zu Josua 1,5b  (Johanneskirche 1. Januar 2006)

„Gott spricht: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.“ (Jos. 1,5b)

Liebe Gottesdienstgemeinde heute am Neujahrsabend,
Eine neue Seite ist aufgeschlagen im Buch der Zeit, blütenweiss, wie ein frisch verschneites Feld. Vielleicht steigen Bilder von früheren Neujahrsspaziergängen vor unserem inneren Auge auf, Bilder von Kindern, noch klein, die mit Begeisterung ihre neuen Spuren in diese unverbrauchte Weite hinein legen. Gefühle von grosser Zuversicht, wenn die Kinder vom hohen Schneewall oder vom Wegbord aus sich in die Tiefe fallen lassen, Vater oder Mutter entgegen, voller Vertrauen, dass sie mit sicheren Armen aufgefangen und an ein warmes Herz gedrückt werden.
Möglicherweise befinden wir uns in unseren inneren Bildern und Gefühlen anderswo, wie auf einem frisch verschneiten Gletscher: geprägt von der Ungewissheit, ob die Schneedecke über dem Spaltengewirr auch wirklich trägt, oder ob urplötzlich eine Schneebrücke unter uns einbricht und uns mitreisst in tödliche Abgründe.
Viele Menschen empfinden ähnlich zur Zeit des Jahreswechsels. Kein Wunder, dass so mancher diesen lauernden Riss im Gefüge des Lebens gerne zukleistert mit rauschender Festlichkeit, mit Lärm und Geknalle. Manchmal benutzt man auch viele gute Wünsche für diesen Zweck, manchmal sogar fromme Worte, um sich nicht seiner Urangst stellen zu müssen, die sich im Untergrund meldet.

Auch unsere Jahreslosung aus dem Buch Josua kann in oberflächlicher Weise zum Zukleistern von Rissen missbraucht werden. Doch eigentlich möchte dieser Zuspruch etwas anderes bewirken: Er möchte unsere Urängste ansprechen und heilvoll berühren. „Gott spricht: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.“
Fallen gelassen werden, verlassen werden - Dies sind Erfahrungen, die manchen unter uns nicht unbekannt sind, und vor denen viele sich zutiefst fürchten. Doch: Was ist denn das eigentlich Bedrohliche darin?
1) Da ist einmal die Angst, fallen gelassen zu werden  - ist es die Angst, dass dadurch mein Innerstes, mein Heiligstes in Brüche gehen könnte, das was so viel zerbrechlicher und so viel wertvoller ist als edles Porzellan? ist es die Urangst, dass dadurch mein innerstes Wesen zerbrechen könnte, dieses kostbare Abbild, das nach dem Urbild Gottes gestaltet ist?
2) Und da ist die Angst, verlassen zu werden -  ist es nur die Angst vor dem Schmerz der Kränkung, der Demütigung? ist es die Angst, dass meine innere Lebendigkeit, die durch Beziehung zu einem DU aufblühen und Frucht tragen möchte, keine Nahrung mehr erhält, serbelt und schliesslich eingeht? und dahinter gar die Urangst, dass mein Leben dadurch nutzlos wird und nur noch dazu taugt, weggeworfen zu werden?
In diese Grundangst, in diese Urangst hinein spricht Gott: „Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.“

Liebe Gottesdienstgemeinde,
Dieses Wort entstammt einer ganz speziellen geschichtlichen Situation: Das Volk Israel steht an der Schwelle des „Gelobten Landes“. Hinter sich: Die Sklaverei in Ägypten, die jahrzehntelange Wüstenwanderung mit all ihren Entbehrungen. Vor sich die versprochene Zukunft, wie sie Gott dem Mose offenbart hat. Doch eben ist der grosse Befreier verstorben und Josua zu seinem Nachfolger bestimmt worden. Wer mag es dem jungen Josua verargen, dass er, von Ängsten und Selbstzweifeln geplagt, erst zögert, die Schwelle zu übertreten. Der Schatten des grossen Mose und die Schwierigkeiten und Widerstände, die sich dem Volk in den Weg stellen werden, scheinen übermächtig zu sein.
In diese Situation hinein sprich Gott zu Josua: „Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.“ -  Und Josua überwindet seine Selbstzweifel. Er entdeckt seine strategischen Fähigkeiten als Feldherr – und das Gottesvolk eilt von Sieg zu Sieg.
Wie gerne ist man versucht, daraus für sich zu folgern: Vertraue auf Gott und dein Leben wird eine Erfolgsgeschichte – wie damals bei Josua. Jedoch, könnte das auch eine fromme Variante des Zukleisterns unserer Grundängste sein? Gott auf unserer Seite, vorwärts, marsch ... und das Leben wird gelingen ... Sieg, Heil! – und dann stellt man später mit Erschrecken fest, dass sich darunter nicht nur der Abgrund des Holocaust, sondern ebenso der Abgrund des fast unlösbaren Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern geöffnet hat, in welchem wechselseitig Lebensräume zugemauert und Leben in die Luft gesprengt werden.

„Gott spricht: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.“

Dieses Wort wurde zu Josua gesprochen. Sein Name „Jehoschua“  od. „Jeschua“ bedeutet im Hebräischen „Hilfe“, „Rettung“, „Heil“, „Glück“. - Jedoch nicht nur dieser Kriegsheld trägt diesen Namen: Wie sagte doch der Engel zu Maria: „Du wirst einen Sohn gebären; und du sollst ihm den Namen „Jeschua“ geben.“ Der Kriegsheld und der Friedefürst tragen denselben Namen! auch wenn sie bekanntlich völlig unterschiedliche Wege gingen. Das Leben dieses zweiten Josua gestaltet sich nun ganz und gar nicht zu einer Erfolgsgeschichte: Der Heiler und Menschenfreund, der Verkünder von Gewaltlosigkeit und Liebe wird von den religiösen Führern und den Politikern fallengelassen wie eine heisse Kartoffel und von seinen engsten Freunden verlassen und sein Leben endet viel zu früh in einer Katastrophe. - Äusseres Scheitern. -  Der Abgrund hat das Leben verschlungen. Doch nur für kurze Zeit – denn mitten in diesem äusseren Scheitern wächst eine innere Kraft, mitten aus diesem Abgrund wächst seither mit unaufhaltsamer Kraft der Lebensbaum empor, der unaufhörlich Blüten trägt.

„Gott spricht: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.“

Liebe Gottesdienstgemeinde,
Wir beginnen dieses Jahr mit dem Namen „Jeschua“, was bedeutet: Gott hilft, Gott heilt, Gott rettet. Der Name „Jeschua“ bewahrt uns nicht zwingend vor Scheitern und Abgründen, der Name „Jeschua“ begleitet uns aber in allem Scheitern und bleibt mit uns in allen Abgründen.
Die Möglichkeit besteht, dass Menschen uns fallen lassen. Die Möglichkeit besteht, dass wir von Menschen verlassen werden. Aber mit dem Beter des 23. Psalms bekennen wir zugleich: „Ich fürchte keine Unheil, denn du bist bei mir...“ - Was immer geschehen mag: Auch wenn Menschen mich fallen lassen, falle ich letztlich in Gottes Arme, die mich auffangen werden. Auch wenn das Leben mich verletzt: Nichts wird mich so tief verletzen können, dass das lebendige Bild Gottes in mir zerbrechen könnte. Was immer geschehen mag: Auch wenn ich von Menschen verlassen werde, wenn ich Einsamkeit und Schmerz zu ertragen habe, Gott schützt mein inneres Heiligtum. Nichts wird hier eindringen können, um meinen lebendigen Wesenskern zu zerstören. Mein Leben hat einen Sinn, mein Leben ist mit Christus geborgen in Gottes Hand.
Wer das begreift, kann immer wieder seine Urangst loslassen, kann sich fallen lassen, weil er weiss, dass er nicht fallen gelassen wird. Wer das begreift, braucht sein Leben auch nicht stets auf die Siegerstrasse zuzusteuern. Er kann sich auch den Verlierern zuwenden: „Der Markt kennt nicht nur Sieger, sondern auch Verlierer“, hat Bundesrat Leuenberger heute in seiner Neujahrsansprache treffend formuliert und das Schweizerkreuz als Symbol dafür gedeutet, dass der Staat auch für die Schwachen da sein müsse. Wie viel mehr will uns der Name und das Kreuz Jesu Christi an diesem Jahresanfang zu neuer Solidarität mit den Schwachen befreien. Amen.

Markus Nägeli

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