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Zaubernuss - Frühlingskraft im Januarloch

Wort zum Sonntag in: Thuner Tagblatt 23. Januar 2010

Ein trüber Wintertag. Auf meinem Nachhauseweg durchs Quartier drückt mir die Hochnebeldecke aufs Gemüt. Der Briefkasten ist voller Werbung. Das Januarloch in der Wirtschaft muss durch zusätzliche Aktionen gestopft werden. Die Schlagzeilen der Tageszeitung mit ihren Unglücksmeldungen lassen meine Stimmung noch weiter sinken. Mich friert und so drehe ich schnell den Hausschlüssel im Schloss. In der Wohnung empfängt mich nicht nur wohlige Wärme, sondern ein eigenartiger Duft. Er führt mich ins Wohnzimmer zum Hamameliszweig in der Vase. Zaubernuss, heisst dieser Busch auf Deutsch und er verdient seinen Namen zu Recht. Immer wieder neu vermag er mich mitten im tiefsten Winter zu überraschen und zu verzaubern: Vor wenigen Tagen erst habe ich den Zweig an einem klirrenden Wintermorgen geschnitten. Bereits am Abend waren für den geübten Blick erste Risse in den Knospen zu erkennen und kleine goldgelbe Spitzchen liessen Frühlingsahnung aufsteigen. Nun ist er voll aufgeblüht. Sein Blütenkleid ist immer noch sehr fein aber mittlerweile unübersehbar: Um jede Knospe kreist ein Strahlenkranz leuchtendgelber Fäden. Sie wirken wie feine Antennen, die irgendwo aus weiter Ferne künftige Musik und künftigen Duft aufzufangen scheinen und diese mitten ins Januarloch hinein senden. Mag es draussen noch so kalt sein, mag ich innerlich noch so frieren, der Zaubernussstrauch zwinkert mir heute aus der Vase und bald schon draussen im Garten zu: Der Frühling naht! Vertrau wie ich der Kraft in dir, die sich regt und die auch dir Mut gibt, das Januarloch zu überwinden.

In der christlichen Tradition wird im Januar der Fokus besonders auf das Licht gerichtet. Zu Beginn der kältesten Zeit, die unserem Gemüt oft auch als düstere Zeit erscheint, hat die Christenheit am 6. Januar „Epiphanias“, die Erscheinung Christi, des göttlichen Lichts in der Welt, gefeiert – und schon bald, am 2. Februar, steht „Lichtmess“ im Kalender. Das Phänomen des wachsenden Lichts gibt diesem Monat Thematik und Inhalt, wohl um unserer Seele in schwieriger Zeit Durchhaltekraft zu verleihen.
Über dem kommenden Sonntag steht als Wochenspruch ein kraftvolles Jesajawort. Der Prophet ermutigt das deprimierte Gottesvolk in seiner Verbannung: „Über dir geht auf der Herr, und seine Herrlichkeit erscheint über dir.“ (Jes. 60,2). Dieses Wort vermittelt eine Stimmung wie kurz vor Beginn der Morgendämmerung. Es klingt wie der Gesang einer Amsel, die, noch im Dunkeln, unbeirrt ihr Morgenlied anstimmt, weil sie spürt, dass der Sonnenaufgang naht. Lassen wir uns von diesem Klang berühren! lassen wir uns vom goldgelben Schimmer, der über dem Hamamelisstrauch schwebt, verzaubern und uns in eine hoffnungsfrohe Stimmung entführen! Dies nicht im Sinn einer Flucht vor der kalten und oft harten Wirklichkeit, sondern als Ermutigung mitten im Alltag. Denn nur hoffende Menschen vermögen genügend Mut und Tatkraft zu mobilisieren, um unserer oft unbarmherzig kalten Wirtschaftwelt, Menschlichkeit und Wärme entgegenzuhalten. Wer davon überzeugt ist, dass die göttliche „Sonne der Gerechtigkeit“ letztendlich über unserer ganzen Welt aufgehen wird, kann auch mitten im Winter aus kommender Frühlingskraft schöpfen und wird so in seiner Umgebung Licht und Wärme verbreiten.

Markus Nägeli, Pfarrer für Spiritualität und Erwachsenenbildung, Ref. Kirchgemeinde Thun-Strättligen

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