blank Texte - Besinnungen Zurück zur Startseite

Eine Welt voller Regenbogen

Gedanken zum Sonntag 8. Mai 2005 in: Homepage Ref. Kirche Thun

Unausgeschlafen und grau im Gesicht öffne ich am Morgen meine Bürotüre. Ich weiss, dass sich auf dem Schreibtisch haufenweise unerledigte Arbeit stapelt und mich wieder einmal schmerzhaft mit meinen Grenzen konfrontieren wird. Da hellt sich mein Gesicht plötzlich auf: Das ganze Büro ist voller Regenbogen. Überall leuchten sie auf, die regenborgenfarbenen kleinen Streifchen: Auf dem Schreibtisch, an den Wänden, und - als ich etwas wegwerfen will – sogar im Papierkorb. Unwillkürlich erinnere ich mich an den berühmten Satz des avantgardistischen Künstlers Josef Beuys: „Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt.“

So gehe ich in meinem eigenen „Hauptbahnhof“ auf die Suche nach der „Mysterienquelle“, die mir heute Morgen den grauen Alltag wunderbar farbig macht: Das linsenförmige Glasobjekt hängt seit dem letzten Weihnachtsmarkt über meinem Schreibtisch. Was hatte mich damals daran so fasziniert, dass ich das Ding unbedingt mitnehmen musste: Waren es vor allem die in unzählige Facetten gebrochenen Ränder, die mich an die Gebrochenheit der Welt und des Menschen erinnerten? oder war es die vorweihnachtliche Sehnsucht nach einer heilen Welt, die mit einem Blick durch die ungeschliffene „heile“ Mitte des Glasobjekts wenigstens ansatzweise erahnt werden konnte?

Was ich jedoch heute Morgen erkenne, ist dies: Nicht aus der „heilen“ Mitte, sondern ausgerechnet aus den gebrochenen Stellen strahlt das Sonnenlicht in unzähligen Regenbogen in meinen Alltag hinein. Und dies leitet meine Gedanken vom längst zurückliegenden Weihnachtsmarkt hin zur Zeit zwischen Passion und Pfingsten, in der wir uns gerade befinden: Der Entstehungsort dieser Regenbogen erinnert mich an eine Erscheinung des Auferstandenen, der seinen Jüngerinnen und Jüngern die Wundmale seiner Passion zeigte, diese Zeichen seiner eigenen Gebrochenheit und dazu sprach: „Friede sei mit euch!“ Die Vielzahl der Regenbogen bekräftigt mir auf neue Weise seine Abschiedsworte „Wie mich der Vater gesandt hat, sende auch ich euch“, und die leuchtenden Farben, die nun auch über mein Gesicht fliessen, lassen mich den belebenden Hauch seines Atems spüren, der damals mit der Zusage „Empfanget heiligen Geist“ auf die Jüngerinnen und Jünger strömte.

Heute Morgen erfahre ich es mit allen Sinnen: Die göttliche Friedensbotschaft verlangt als Quellort keine heile Welt. Sie entspringt der tiefen Wandlungserfahrung, dass das Licht der Christussonne, gerade dann, wenn es durch unsere Gebrochenheit hindurchleuchtet, in neuer Weise Lebensbejahung und Friedenskraft schenkt. Dadurch wird grauer Alltag farbig: im Hauptbahnhof, mitten auf dem überquellenden Schreibtisch und sogar in meinem Gesicht – und lässt mich mit neuem Mut ans Werk gehen.

Markus Nägeli, Pfarrer in Thun-Strättligen

Zurück zur Auswahl

Sie sind der 761153. Besucher dieser Homepage
© 2024 by Markus Nägeli, Thun - Disclaimer - Webdesign by dysign.ch