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Bewegung zum Urgrund des Lebens (2004)

in: Reformiertes Gemeindeblatt Thun, Nr. 10, Oktober 2004

Seit ungefähr einem Jahr gibt es in der Kirchgemeinde Strättligen das Pfarramt Spiritualität. Seit einem Jahr ist Markus Nägeli in diesem Pfarramt tätig. In dieser Zeit hat er verschiedene Angebote gemacht und mit einigen Anlässen Aufsehen erregt und von sich reden gemacht.

Heiner Bregulla fragt Markus Nägeli nach der Bedeutung von Spiritualität und den Hintergründen seiner Arbeit.

Spiritualität, was ist das?

Interview mit Markus Nägeli, dem Beauftragten für Spiritualität der Kirche Thun Strättligen.
Interview: Heiner Bregulla



Markus Nägeli, seit einem Jahr bist du Beauftragter für Spiritualität in der Kirchgemeinde Thun Strättligen. Was ist für dich Spiritualität?

«Spiritualität» ist ein Modewort. Es bezeichnet jedoch eine uralte Sache: Mit Spiritualität wird die Bewegung hin zum Urgrund des Lebens bezeichnet, die (innere und äussere) Hinwendung zur göttlichen Welt. Früher brauchte man dafür eher den Begriff «Frömmigkeit». Heute ist dieses Wort in Misskredit geraten. Einerseits wirkt es allzu verstaubt und anderseits wollen viele Menschen auf ihrer inneren Suche nach einer Vertiefung des Lebens die Grenzen der christlichen Konfessionen übersteigen. So eignet sich der Begriff Spiritualität heute besser, weil er noch vieles offen lässt. Spiritualität ist jedoch ein «Containerbegriff». Jeder kann hineinfüllen, was er gerade will. Deshalb lohnt es sich, immer zurückzufragen, was der jeweilige Gesprächspartner mit Spiritualität gerade meint.

Ich persönlich fülle das Wort Spiritualität mit dem Bedürfnis, meinen Glauben und mein Leben gleichzeitig zu vertiefen und zu weiten. Primär zehre ich von den spirituellen Schätzen unserer abendländisch - christlichen Tradition unter gleichzeitiger Offenheit für einen fruchtbaren Dialog mit spirituellen Strömungen aus anderen Kulturkreisen.


Im Wort Spiritualität steckt das Wort «Spiritus» (= Geist). Kann Spiritualität auch bedeuten, im Alltag sichtbar werden zulassen, was man glaubt?


Spiritualität muss sich unbedingt im Alltag bewähren. Ein lesenswertes neues Buch trägt den Titel «Wie schnürt ein Mystiker seine Schuhe?» Spiritualität sucht aus der Vertiefung der Verbindung zum Hintergründigen nach einem veränderten Umgang mit dem Vordergründigen. Bis eine solche Veränderung im eigenen Leben spürbar um sich greift, braucht es oft einen längeren Weg und dazu ist das Wirken des Geistes, den wir im Christentum auch den «Heiligen Geist» nennen, unabdingbar.


Am Gründonnerstag hast du in der Scherzligkirche einen orthodoxen Gottesdienst gefeiert. Was war deine Absicht dabei?

In unserer protestantischen Tradition sind wir uns gewohnt, über die Thematik der christlichen Festzeiten zu predigen; weniger jedoch, die christlichen Feste von ihrem Sinngehalt her zu feiern. Viele Menschen sehnen sich heute danach, die Ursymbolik der Jahresfeste auf ganzheitlichere Weise zu erfahren und etwas von deren Wirkkraft zu spüren. Die liturgische Abendmahlsfeier vom Gründonnerstag versuchte diesem Bedürfnis Rechnung zu tragen. Der Verkündigungsteil wurde durch ein Chorwerk, den altkirchlichen «Hymnus Christi», geprägt, dessen moderne Klangsprache eine innere Verwandtschaft mit der liturgischen Musik aus der orthodoxen Kirche aufweist. So war es für mich gegeben, zur Gestaltung der Liturgie orthodoxe Kirchenmusik zu verwenden, welche das «Wort» stärker über den Kanal der Seele an uns heranträgt als über den Kanal unserer Ratio.


Einiges Aufsehen hat auch die Sonnwendfeier erregt, zu der du Ende Juni auf die Wiese vor der Scherzligkirche geladen hast ...

«Wir feiern die Zeit des längsten Tages und den Geburtstag Johannes des Täufers.» Dieser Satz auf der Einladung zum Johannifest wurde ganz bewusst gewählt. Er drückt einen Doppelaspekt aus, der mir für meine ganze Arbeit wichtig ist: Einerseits möchte ich den Zugang zu einer Schöpfungsspiritualität vertiefen und diese kosmische Dimension des Glaubens zugleich in Verbindung mit unserer jüdisch   christlichen Tradition leben. Diese rückt stärker den heilsgeschichtlichen Aspekt der Beziehung der Menschen mit Gott in den Vordergrund. So feierten wir nicht eine «Sonnwendfeier», die zu einer vorchristlichen Naturreligion zurückweisen könnte. Sondern zum Zeitpunkt, wo die Sonne ihren Höchststand bereits überschritten hatte (24. Juni) richteten wir uns in Wort, Tanz und Ritual nicht nur auf die irdische Sonne aus, deren Einfluss nun wieder abnimmt. Wir erinnerten uns auch an Johannes den Täufer, wie er auf Jesus, die geistige Sonne, hinwies: «Sein Einfluss muss zunehmen, meiner muss abnehmen.» Das Mitgehen mit dem wechselnden Sonnenlauf kann uns in seiner Ursymbolik die alten Heilstatsachen vertiefen helfen. Aus diesem Grund werden wir auch nächstes Jahr das Johannifest in ähnlicher Weise begehen.


Am 15. August hast du aus Anlass des ursprünglichen Kirchweihtags der ehemaligen Wallfahrtskirche «unserer lieben Frau zu Scherzligen» eine liturgische Marienvesper durchgeführt. Glaubst du, dass es angebracht ist, dass in unserer Kirche Maria wieder mehr und intensiver verehrt wird?

Die Entdeckung der Marienfresken im Chor der Scherzligkirche bedeutet für uns Reformierte eine grosse Herausforderung. Ich höre für mich darin die «Gretchenfrage»: Und wie hältst du's mit Maria? Mir ist vor einigen Jahren bewusst geworden, dass im Protestantismus nach einer heilvollen Zäsur eine unheilvolle Entwicklung vor sich gegangen ist. Unsere Reformatoren wollten die Verehrung Marias nicht abschaffen, sie wollten sie nur von unevangelischen Missbräuchen reinigen. So gehörte der Gruss an Maria (das «Ave Maria») als Bestandteil evangelischer Marienverehrung bei Zwingli noch wie selbstverständlich mit zur Liturgie. Der spätere Protestantismus hat dann mit Maria tabula rasa gemacht und damit in unseren Seelen ein marianisches Vakuum hinterlassen. Tiefenpsychologen weisen darauf hin, dass nach der nötigen Abgrenzung von der Mutter auf dem Reifungsweg des Menschen eine neuerliche Integration des Weiblichen unabdingbar ist. Wenn wir im Protestantismus keine Möglichkeit schaffen, das Mütterliche wieder in unsere Spiritualität zu integrieren, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn ausserchristliche Mutterkulte überhand nehmen.


Der jetzt amtierende Papst ist ein glühender Marienverehrer. Gleichzeitig möchte er die Frauen möglichst von allen liturgischen Handlungen fernhalten. Offenbar ist die Verehrung der einen «unbefleckten» Frau eine Seite der Medaille und die andere Seite ist die Unterdrückung der Frau in der Praxis der katholischen Kirche. Macht das die Marienverehrung nicht sehr suspekt?

Es gibt nicht nur eine Art der Marienverehrung und es gibt haufenweise Missbräuche. Missbräuche zu entdecken und uns davor zu distanzieren ist nötig. Deswegen brauchen wir jedoch nicht das Kind mitsamt dem Bade auszuschütten.


Du hast in deiner bisherigen Arbeit immer wieder auf orthodoxe und katholische Formen zurückgegriffen, weshalb?

In meiner Jugend prägte mich die Begegnung mit der ökumenischen Communauté von Taizé tief. Damals wurde mir der konfessionelle Vorhang, den ich über mein Christsein gelegt hatte, wie weggezogen. Ich spürte erstmals etwas von der Grösse und Weite dessen, was christliche Kirche alles sein kann. Seither bin ich daran, in ökumenischem Geist von allen christlichen Traditionen zu lernen und deren spirituellen Schätze in meine eigene Spiritualität zu integrieren.


Gibt es auch Formen reformierte Spiritualität?

Natürlich! Jede Konfession hat ihre spezifische Farbe von Spiritualität. Nur tun wir Reformierte uns traditionellerweise etwas schwer damit. Viele Reformierte definieren sich letztlich so: Gut reformiert sein heisst: Nicht katholisch sein und kein Stündeler! Eine doppelte spirituelle Abgrenzung ist jedoch eine schlechte Ausgangslage, um positiv sagen zu können, was reformierte Spiritualität nun wirklich sein könnte. Es ist eben schon so, dass ein Grossteil typisch reformierter Spiritualität in Freikirchen und Gemeinschaften stattfindet, ob uns Landeskirchlern das passt oder nicht: Die Ausrichtung auf die Bibel und auf Jesus, die Praxis des mündigen, nicht liturgisch gebundenen Gebets, die Betonung von Gesang und Gemeinschaft, das soziale Engagement, dies alles sind typische Formen reformierter Spiritualität. Diese lässt sich natürlich auch in landeskirchlicher Farbgebung praktizieren.


Braucht ein reformierter, aufgeklärter Christ, der seine Bibel kennt und versucht so gut es geht im Alltag zu leben, braucht ein solcher reformierter Christ noch Spiritualität?

Ich habe in meiner langjährigen Pfarramtspraxis verschiedene eindrückliche Begegnungen mit Menschen gehabt, die in mündiger Weise mit ihrer Bibel lebten, ihre Frömmigkeit «im stillen Kämmerlein» praktizierten und im Sonntagsgottesdienst von der Predigt und den geistlichen Schätzen des Kirchengesangbuchs zehrten. Ihre unauffällige Spiritualität strahlte durch ihre Lebenshaltung spürbar in ihren Alltag aus. Dieser Typus des spirituell in der herkömmlichen reformierten Tradition verwurzelten Landeskirchlers ist jedoch selten geworden und es könnte sein, dass er mit der Zeit aussterben wird. Die verbreitete Haltung des «tue recht und scheue niemand!» ist noch nicht reformierte Spiritualität. Deshalb möchte ich Menschen auf ihrer Suche nach spiritueller Vertiefung unterstützen.


Du willst in deiner Arbeit verschiedene Formen der Spiritualität leben lassen und anbieten. Weshalb?

Die Reformierte Kirche definiert sich auch als «ecclesia semper reformanda». Eine sich ständig reformierende Kirche muss offen bleiben für spirituelle Erneuerung aus verschiedenen Quellen. Sie hat zudem Verständnis dafür, dass das göttliche Licht wie beim Regenbogen sich in unterschiedlichen Farben bricht. Ich erlebe in meiner eigenen Seele, wie unterschiedliche Bedürfnisse zu unterschiedlichen Zeiten nach unterschiedlicher spiritueller Gestaltung rufen. Deshalb liegt mir sehr daran, dass eine Vielfalt von Spiritualitäten in unserer Kirche Lebensrecht geniesst. Versöhnte Verschiedenheit ist mir ein wichtiges Anliegen.


Welche weiteren Aufgaben nimmst du von deinem Spiritualitätspfarramt her in Angriff?

Ausser bei den bereits erwähnten Veranstaltungen trage ich Verantwortung für das «ökumenische Taizé - Abendgebet», die «Donnerstags Meditationen» und den «Meditativen Tanz im Jahreslauf». Künftig werde ich an Stelle von Luzius Jordi die Begleitung der jährlichen Fastenwoche übernehmen und im Team für das «Handauflegen» in der Kirche Allmendingen mitwirken. Neu beginnt nach den Herbstferien der «Lesekreis Spiritualität». In den ersten zwei Adventwochen werden in der Kirche Allmendingen wiederum mehrere Feiern im «Adventsgarten» stattfinden. Und am Neujahrsabend 2005 erbitten wir uns in der Johanneskirche im Abendmahlsgottesdienst mit Segnung und Salbung die Kraft des «Spiritus Sanctus» auch für das kommende Jahr.


Wir danken Markus Nägeli für das Gespräch.

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